Hanne Weskott: SHANGHAI FEELING

Hanne Weskott: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Jutta Nase – SHANGHAI FEELING“, Schloss Fußberg, Gauting (10.11.2000)

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Mensch, einmal auf dem Boulevard, Mensch, einmal in Paris, so konnte Kurt Tucholsky noch dichten. Heute wäre er damit, wie man so schön sagt, megaout. Paris als das Kulturzentrum der Welt hat längst ausgedient, und Paris als die Stadt der Liebe wurde als schönes Märchen entlarvt. Den gemütlichen Franzosen mit der Baskenmütze findet man an den Ufern der Seine ganz bestimmt nicht mehr, schon deshalb nicht, weil man dort wegen der mehrspurig vorbeirasenden Autokolonnen kaum noch frei atmen kann. Seine Bronchien kann man schließlich auch anderswo schädigen, und da steht Asien im allgemeinen und China im Besonderen zurzeit an der Spitze. Hier liegt schließlich die Zukunft der Weltwirtschaft und jetzt, wo sogar der Computer Chinesisch lernt, wird das Milliardenvolk der Chinesen nicht mehr aufzuhalten sein.

Die größte, modernste und auch lebendigste Stadt Chinas ist Shanghai, das mit seinen rund 15 Millionen Einwohnern zugleich eine der größten Städte der Welt ist. Früher einmal war es die europäischste Stadt Chinas, weil es nach der Eroberung durch die Engländer im Opiumkrieg 1842 sich dem Außenhandel öffnete und auch Amerikaner und Franzosen dort Rechte erwerben konnten. Die Kommunisten ließen es eben wegen jener Beziehungen zum Klassenfeind erst mal darben. Aber mittlerweile lernen auch die Chinesen die Vorteile des Kapitalismus zu schätzen, und Shanghai ist wahrscheinlich wieder die westlichste Stadt Chinas. Jedenfalls sieht sie auf vielen Fotografien wie jede andere Großstadt der Welt aus.

Das aber täuscht. Shanghai ist eine Stadt der extremen Gegensätze, und gerade diese Gegensätze haben Jutta Nase fasziniert. Neben dem nicht enden wollenden Verkehrslärm gibt es die Klöster als Oasen größter Stille, neben den Hochhäusern die kleinen altchinesischen Häuschen, neben dem First-Class-Hotel, die Wäsche auf der Leine. Reichtum und Armut Tradition und modernes Leben liegen hier wie oft in Asien ganz eng beieinander. Das aber hat die Künstlerin vorher nicht so ganz genau gewusst. Shanghai war für sie eher eine Art märchenhafter Ort. Und als sich ihr durch eine Freundin, die dort arbeitete, die Möglichkeit eines Besuchs bot, griff sie zu.

So scheint es zunächst, dass die Wahl für Shanghai als Ort für ihre Begegnung mit der fremden Welt Chinas auf falschen Voraussetzungen beruhte, aber das scheint nur so oder ist letztendlich doch nicht wichtig. Schließlich ist Shanghai trotz der beeindruckenden Skyline noch genug chinesisch, um ein Fremdheitsgefühl aufkommen zu lassen, und gerade dieses Fremdheitsgefühl hat Jutta Nase auf sich selbst zurückgeworfen. Sie meint, sie hätte dadurch ganz viel über sich selbst erfahren. Im Besonderen hätte sie gelernt, Dinge, die Umgebung oder auch natürliche Elemente, wie die wasserfallartigen Regengüsse während der Regenzeit einfach zu akzeptieren. Sie hätte in manchen Bereichen ein Stück Fremdbestimmung zugelassen, und das findet sich auch in ihren Bildern wieder. Meiner Meinung nach sind sie dadurch malerischer geworden. Aber jenseits davon könnte es auch sein, dass gerade die Ambivalenz zwischen chinesischer Geschichte und Kultur und dem Weltstadtflair von Shanghai für sie von besonderem Reiz war, weil die Überlagerung unterschiedlicher Kulturen, die für Shanghai typisch ist, ihrer Art des prozessualen Arbeitens in Schichten entspricht.

Erinnern wir uns an ihre letzte Ausstellung in München in der Pasinger Fabrik vor zwei Jahren, wo sie unter dem Titel „in between“ Bilder zeigte, in denen sie sich mit alten Fotos auseinandersetzte, indem sie diese übermalte und vor allem beschrieb. Auf diese Weise entstand eine stumme Zwiesprache zwischen den abgebildeten Personen und der Künstlerin. Es war in jedem Fall eine sehr einseitige Form des Dialogs, nicht nur weil die Abgebildeten nicht zu Wort kamen, sondern auch, weil dem Betrachter der Inhalt des Dialogs verborgen blieb. Was Jutta Nase damals geschrieben hatte, waren Worte, Zeichen, Buchstaben, aber keine zusammenhängenden Kommentare. Dieses war auch gar nicht ihre Absicht. Vielmehr ging es ihr um eine gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit dem Bild und der Person. Und genau darum geht es in den Shanghai-Bildern wieder. Jutta Nase versucht also in ihrer Kunst, nicht die Kultur Chinas zu kommentieren, sondern sie sucht, wie schon der Titel der Ausstellung „Shanghai Feeling“ besagt, eine gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit den fremden Düften und Gerüchen, Menschen und Farben, Plätzen, Orten, dem Leben im Alltag, im Lärm der Großstadt und abseits „Unter dem Fluss“ oder im Tempel. Mit „Shanghai Feeling“ meint sie übrigens genau das eben beschriebene Gefühl der Fremdheit, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, sagt sie.

Ausgangspunkt und Ziel ist bei ihr wie immer das Bild. Diesmal allerdings verwendet sie kein fremdes oder gefundenen Material, sondern hat wie andere Touristen auch bei ihrem Aufenthalt im vergangenen Jahr unzählige Fotos geschossen. Ob sich diese von denen der anderen Touristen unterscheiden, ist für uns nicht auszumachen. Auch wenn Titel wie „Pagode“ oder „Roter Tempel“ eher in die Richtung touristische Sehenswürdigkeit weisen, geht es jedenfalls nicht um den touristischen Blick auf das Land. Trotz aller Übermalungen und Bearbeitungen ist eine subjektive Sicht und eine ganz und gar persönlich Auswahl wiedergegeben. Diese Fotos werden ebenso wie das früher verwendete gefundene Fotomaterial als Kopien auf den Zeichenkarton montiert, allerdings auf den grundierten Zeichenkarton, was die Farbigkeit kräftiger erscheinen lässt. Das ist sicher eine Referenz an die Buntheit der asiatischen Welt. Danach erfolgt die Bearbeitung des von ihr selbst gewählten Motivs mit Farben, Linien und mehr oder weniger dichten Überschreibungen. Vom ursprünglichen Bild bleibt nur wenig übrig, und doch bezieht sie sich in ihren Titeln ganz konkret auf den Aufenthalt in Shanghai wie in „Am Morgen des Dritten Tages“ oder „See über dem Berg“.

Shanghai hat Jutta Nase aber nicht nur zur visuellen, sondern auch zur verbalen Auseinandersetzung animiert. Diesmal entstanden lesbare Texte wie der im Katalog abgedruckte „Der Wächter“. Und diese haben etwas von der märchenhaften Vorstellung von der Stadt gerettet. Allerdings meint sie, dass sich beim Wiederkommen nach einem Jahr, jetzt vor ein paar Wochen zur Ausstellung im German Centre Shanghai manche Erinnerungen als Trugbild erwiesen haben.

Erinnern und Vergessen gehen ja Hand in Hand, arbeiten miteinander und gegeneinander, was zu verschwimmen droht, wird, wenn es in diesem Augenblick wichtig erscheint, wieder hervorgeholt, das heißt, die Umrisse werden neu markiert, aber auch verändert. Genauso geht Jutta Nase mit ihren bildmäßigen Erinnerungen um, und das unterscheidet diese Bilder wesentlich von den früheren Briefen, die ja mit fremden Erinnerungen zu tun hatten. Der Prozess der Auseinandersetzung ist vielschichtiger geworden. Manches, was während des Arbeitsprozesses übermalt wurde, und damit in die Zone der Vergessenheit zu geraten drohte, wird in einem späteren Arbeitsgang wieder hervorgeholt, betont und markiert. Gut zu erkennen ist das in der „Pagode“ oder in „Unter dem Fluss“, wobei gerade die dick markierten Fenster der Pagode für die Künstlerin ein Zeichen des Geheimnisses sind, das diese Welt für sie darstellt. Sie sagt, sie würde gern diese Fenster öffnen, um dahinter zu schauen. Ganz anders das Bild „Unter dem Fluss“, ein Titel, der selbst für uns, die wir mit der U-Bahn die Isar durchqueren oder gar den Ärmelkanal mit dem Zug, immer noch seltsam klingt, Jutta Nase hat zu „Unter dem Fluss“ die Geschichte einer alten Frau erfunden, die eines Tages in den Fluss geht und sich ganz dem Fließen überlässt, in den Elementen aufgeht und so in den Kreislauf der Natur zurückkehrt.

Der Arbeitsprozess und der neu aufgenommene Dialog mit der Vorlage bedeuten gleichzeitig eine stufenweise Aneignung des Bildes. Sie meint, dass es dadurch immer mehr zu ihrem Bild wird, auch wenn es sich von der ursprünglichen Aufnahme immer weiter entfernt. Die malerische Bearbeitung erfolgt zwar intuitiv, aber nicht blind. Es geht hier schließlich nicht nur um Inhalte, sondern auch um Bilder. Die Künstlerin antwortet mit ihren Mitteln, mit Farbflächen und Linien auf die Vorlage, beginnt sozusagen den doppelten Dialog mit dem bereits durch ihren subjektiven Filter gegangenen Fremden. Bei Jutta Nase geht es also trotz des rein dokumentarischen Charakters ihrer Fotografie in keiner Weise um eine realistische Darstellung der Welt, sondern vielmehr um eine Verdichtung des Bildmaterials zu existenziellen Sinnbildern. Wir finden hier keine Problemfälle, keine soziale Deformation, kein Ausbruch von Gewalt, keine politischen Manifestationen, keine Folklore. Es geht vielmehr um eine vorsichtige Annäherung an das Fremde und ein Versuch der Verinnerlichung mit Hilfe der eigenen, gewohnten künstlerischen Mittel. Die Klarheit liegt hier nicht an der Oberfläche, sondern in den Zwischenräumen und den Untertönen, in den Ablagerungen und Überlagerungen und Sedimentationsschichten.

Die Künstlerin versucht also nicht, die Kultur Chinas zu kommentieren, sondern sie sucht eine gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit dem fremden Ort. Mit „Shanghai Feeling“ meint sie das Gefühl der Fremdheit, „als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen“.