Brigitte Hammer: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Von Zeit zu Zeit“, Bessy (6.5.1999)
Liebe Jutta Nase, liebe Kunstfreundinnen und Kunstfreunde, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Gelegentlich wird der Kunst unserer Zeit vorgeworfen, sie habe sich von den Menschen abgewandt und in ein elitäres Ghetto zurückgezogen, auf dessen Wegen zwischen den Akademien und Ausstellungstempeln sich nur Eingeweihte mit hochnäsigem Kennerblick bewegen können. Und zweifellos braucht manche Kunst das museale Umfeld, um in diesem besonderen Raum ihre volle Wirkung entfalten zu können. Im Museum findet die Kunst einen Ort, der ganz auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist: das richtige Licht, der optimale Abstand zum Betrachter; Sicherungsvorkehrungen, die das Kunstwerk vor Berührung und Beschädigung schützen, sind gewährleistet und schaffen einen bestimmte, dem Kunstwerk zugewandte Aura.
Ich kenne die Bilder von Jutta Nase vom Ort ihrer Entstehung im Atelier der Künstlerin, und ich will gestehen, dass ich ebenso skeptisch wie neugierig war, als ich hörte, dass sie in der hochmodernen Architektur eines Forschungszentrums gezeigt werden sollen. Neugierig machte mich die Vorstellung, der Kunst von Jutta Nase an einem kunstfremden Ort zu begegnen, und skeptisch der Gedanke, wie sich die einerseits dichten und intensiven, andererseits aber auch zurückhaltenden und leisen Bilder wohl in den räumlichen Bedingungen einer „Architektur zum Arbeiten“ behaupten würden.
Als ich jedoch gestern die Gelegenheit hatte, die Bilder an den Plätzen zu betrachten, an denen sie für die nächsten dreieinhalb Monate hängen werden, wurde die Skepsis von Freude und einem heftigen Neidgefühl abgelöst. Die Freude entstand bei der Entdeckung, dass Farbintensität und Malduktus auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen ihre Ausstrahlung nicht nur behalten, sondern dass ich die Bilder geradezu „in einem neuen Licht“ sehen konnte. Und das Neidgefühl entwickelte sich gegenüber den mir unbekannten Menschen, die auf ihren täglichen Arbeitswegen immer wieder einen anderen Blick auf die Bilder werfen können.
Sie werden die großen, freihängenden Blätter am Morgen, auf dem Weg in die Mittagspause und am Ende ihres Arbeitstages, an hellen und an trüben Frühlingstagen sehen können und dabei ihre eigenen Gedanken und wechselnden Stimmungen haben, sie werden einige Bilder lieben lernen und andere vielleicht weniger mögen, und ich hoffe und wünsche Ihnen, dass Ihnen dies Anlass gibt, sich mit Ihren Kollegen über Themen und Fragen auszutauschen, die ihren Arbeitsalltag bereichern und verwandeln.
Und wenn in einigen Monaten andere Bilder aufgehängt werden, können Sie Ihren Arbeitsplatz wiederum anders erleben, und ich kann mir vorstellen, dass die Kunst in Ihrem Hause diskrete und allmähliche, aber nachhaltige Wirkungen entfaltet, und Sie feststellen werden, dass Ihnen etwas fehlt, sobald die Bilder abgehängt sind. Aber damit schaue ich zu weit voraus auf das Ende einer Ausstellung, deren Eröffnung wir heute gemeinsam feiern wollen, und deshalb wenden wir uns zunächst einmal den Bildern zu, die aus dem umfangreichen, in den letzten Jahren entstandenen Œuvre für Sie ausgewählt wurden.
Die Künstlerin wählte für ihre Ausstellung den Titel „Von Zeit zu Zeit“, und mit der Wahl dieser vielgebrauchten Redewendung der Alltagssprache gibt sie uns schon einen mehrdeutigen und vielsagenden Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke an die Hand. Ihre Arbeiten verbinden unterschiedliche Zeitebenen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sie nehmen ihren Ausgang vom privaten Bild in fremden Räumen und wenden sich doch unmittelbar an die Empfindungsfähigkeit und das Vorstellungsvermögen des Betrachters.
Von einiger Entfernung aus betrachtet erscheinen die Bilder zunächst wie abstrakte Kompositionen aus Formen und Farben, die in einer gewissen rhythmischen Struktur zueinander geordnet auftreten. Tritt man näher heran, werden Schichtungen erkennbar, die sich als Farbschraffuren über ein flaches Gitternetz rechteckiger Formen herausstellen. Der Blick des Betrachters tastet über Linien und Flächen, und plötzlich entdeckt er ein Gesicht, ein Lächeln oder einen Alltagsgegenstand und eine sich wiederholende Anordnung heller oder dunkler Stellen.
So entdecken wir zunächst durch bloße aufmerksame Beobachtung das wesentliche Arbeitsprinzip der Künstlerin. Als Basis und Ausgangsmaterial ihrer Inspiration verwendet sie Bilder aus alten Fotoalben. Solche Kompendien einer Familiengeschichte existieren fast in jeder Familie, und man nimmt sie gerne „von Zeit zu Zeit“ in die Hand, um sich an vergangene Ereignisse, abwesende Familienmitglieder und alte Freunde oder vielleicht an das jugendliche Gesicht alt gewordener Angehöriger zu erinnern.
Es gehört zum Wesen solcher in Schnappschüssen fixierten Familiengeschichten, dass sich die festgehaltenen Szenen in allen Alben ähnlich sind: die Geburtstagsfeiern mit Kaffeeklatsch, der Likörflasche auf dem Tisch mit der Spitzendecke und dem Paradekissen auf der Sofalehne, die Weihnachtsfeste mit dem geschmückten Tannenbaum, die Hochzeiten, Schüler- oder Kollegengruppen oder Einzelporträts, die Erinnerungen an vergangene Frisuren-und Kleidermoden wachrufen. Es sind sich wiederholende Alltagsszenen eines Menschenlebens, die gleichwohl besondere Höhepunkte einer individuellen Geschichte festhalten und das Sich-Erinnern erleichtern.
Wenn Jutta Nase ein Bild ausgewählt hat, fertigt sie im ersten Arbeitsgang eine Reihe von Fotokopien an, die das Ausgangsfoto mehr oder weniger stark vergrößern und verfremden und die dann dicht nebeneinander auf den Bildträger aufgeklebt werden. Daraus entsteht das rhythmische Grundraster, das durch alle späteren Arbeitsschichten hindurch wirkt. Diese erste Schicht wird mit lasierenden Farben, Graphitstiften oder Aquarell-Kreiden in mehreren, sich überlagernden Schichten überarbeitet und zum Schluss mit Firnissen gefestigt und haltbar gemacht.
Manche Bilder erhalten so eine ziemlich dichte Struktur, die das darunterliegende Foto nur noch ahnen lassen, andere bleiben offener, und wieder andere zeigen ein spannungsvolles Verhältnis von „zugemalten“ und offenen Stellen, die den Betrachter wie durch Schlüssellöcher in ein fremdes Leben schauen lassen.
Oder in eine andere Zeit.: Wir brauchen nicht viel Fantasie, um uns ein früheres Erziehungsverhalten vorzustellen, wenn uns eine ernste Kindergruppe anschaut, die kein Lächeln für den Fotografen übrig hat. Die streng wirkenden Erzieherinnen legen zwar den Kindern ihre Arme auf die Schultern, aber wir können spüren, dass diese scheinbar liebevolle Geste nicht nur etwas Sorgendes und Beschützendes ausdrückt, sondern dass sie auch nur wenig (Spiel-)raum lässt und eisern festhalten will. Da können schon mal „Blaue Flecken“ entstehen, und in der Bearbeitung durch die Künstlerin wird dieses Gefühl für starre Prinzipien und unnachsichtig durchgesetzte Ordnungen eindrucksvoll vermittelt.
Auch in anderen Bildern von Jutta Nase stellt sich solch ein überraschender Sprung über die Zeiten ein, etwa wenn wir die Arbeit „Milchstraße“ von 1996 betrachten. Passbilder von Männern in Soldatenuniform bilden das Grundraster. Ein dichtes Geflecht von Graphitschraffuren schafft eine schwebende, kosmische Tiefe, aus der manche Gesichter wie Lichtpunkte hervorleuchten. Das Verschwinden des Individuums hinter der Uniform und das Auslöschen eines Menschenlächelns durch den Krieg gewinnen hier eine beklemmende Aktualität.
Aber auch in den Bildern, in denen der Mensch abwesend ist, vermittelt sich viel über ein fremdes Schicksal. Auch dafür will ich noch ein Beispiel geben: In der dritten Etage hängt gegenüber vom Aufzug eine Arbeit mit dem Titel „Das Bett“. Die vorherrschende orangegetönte warme Stimmung erweist sich bei genauerem Hinsehen als herber Kontrast zur kargen Ausstrahlung des Zimmers. Der Teppich im orientalischen Muster, die altmodischen Lampen und die Madonna an der Wand – es ist doch ein recht einsames Zimmer, das hier das Zuhause eines unbekannten Menschen bildet und doch so viel zu erzählen vermag.
Jutta Nases großformatige Papierarbeiten sind Bilder vom Menschen und vom Menschlichen in der Zeit-Geschichte. Sie wenden sich an den Menschen im Betrachter und im vorliegenden Fall an den Menschen an seinem Arbeitsplatz. Als ich gestern durch dies Haus ging, sah ich in allen Büros, in denen die Türen offen standen, die Schreibtische mit ihren Computern, und ich versuchte mir vorzustellen, in welche fernen Welten Sie durch die Fenster Ihrer Bildschirme schauen. Und ich denke, dass Sie es gut haben, wenn Sie von Ihren Zahlenreihen aufschauen und sich bei Jutta Nases Bildern erinnern, wie viel andere Dimensionen das Leben noch so zu bieten hat. Und weil ich selbst mit der Kunst lebe, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen als den wiederholten und (all-)täglichen Blick auf Kunstwerke. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei Ihrem zukünftigen Leben mit den Bildern von Jutta Nase, uns allen noch einen schönen Abend und danke Ihnen fürs Zuhören.
Ihre Arbeiten verbinden unterschiedliche Zeitebenen zwischen Vergangenheit und Gegenwart; sie nehmen ihren Ausgang vom privaten Bild in fremden Räumen und wenden sich dann unmittelbar an die Empfindungsfähigkeit und das Vorstellungsvermögen des Betrachters.