Hanne Weskott: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Jutta Nase – Briefkompositionen“, Pasinger Fabrik, München (28.10.1998)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur“. Diesen Vers aus dem Poesiealbum wird von uns wahrscheinlich keiner je vergessen, und manch einer, der ihn schon nicht mehr hören konnte, wird sich in bestimmten Situationen die Fähigkeit des positiv selektierenden Gedächtnisses gewünscht haben. So stellt Gottfried Benn in seinen Briefen an F.W. Oelze fest: „Die Menschheit erhält sich … durch eine Grundarznei: Vergessen, Erinnerungsschwäche, Leidens-Unerinnerlichkeit und durch die immer rechtzeitig einsetzende Rückbildung gefährlich werdender Tiefenprägung.“ (Gottfried Benn, Briefe an F. Oelze, 1932-1945, hrsg. v. Harald Steinhagen/Jürgen Schröder. Stuttgart 1977, Nr. 1 16 (6.7.1938), S. 196f.)
Vergessen können ist eine Gnade, die in der Menschheit nur sehr ungleich verteilt ist. Manchmal können es Gewalttäter besser als ihre Opfer, Mörder besser als die Angehörigen der Ermordeten, Eltern besser als Kinder oder umgekehrt. Die Gnade des einen kann der Fluch des anderen sein. Vergessen können ist eben nicht nur Gnade, sondern auch Flucht, Unverbesserlichkeit, Lernunwilligkeit und letzten Endes auch Täuschung, weil wir vieles nur verdrängt und nicht wirklich vergessen haben. Die „gefährlich werdende Tiefenprägung“ ist bewusst nicht zu verhindern. Eine Psychotherapeutin hat mir einmal erklärt, dass unsere Synapsen im Hirn auch noch von den Bildern besetzt sind, die schon unserer Vorfahren gespeichert haben. Auch wenn wir davon keine Ahnung haben, können wir sie zurückrufen, beispielsweise in einem Zustand der Trance. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts haben Künstler immer wieder mit Mitteln wie Trance, Rausch oder Halluzinogenen versucht, ihre vergessenen, aber gespeicherten Bilder ans Licht zu holen, um Bilder zu schaffen, die so nur von ihnen selbst geschaffen werden konnten. Sie haben, zumindest in bestimmten Punkten die „Grundarznei der Menschheit“, das Vergessenkönnen, als einen Verlust angesehen.
Auch im Durchschnittsleben eines Durchschnittsmenschen wird Vergessen oft eher als Verlust, Hindernis oder Fehler betrachtet, weil die Grundarznei ohnehin ganz unbewusst funktioniert. Die Menschheit hat Systeme und Mittel erfunden, um dem Gedächtnisverlust vorzubeugen. Sie ist zu einer Art Buchhalter-Gemeinschaft geworden: Dokumente und Erinnerungen jeder Art werden sorgfältig aufbewahrt, Korrespondenzen abgeheftet, es gibt das Fahrtenbuch oder das Journal, und selbst das private Tagebuch ist noch nicht ganz ausgestorben. Die einen halten mit der Video-Kamera alle vermeintlich wichtigen Ereignisse für sich, ihre Kinder und Kindeskinder fest, und fast alle fotografieren. Klein-Erna und Hänschen, der frisch gebackene Vater, Kindergeburtstag, Reisen und immer wieder die Familie. Die privaten Fotoberge wachsen, und je nach Familienbrauch und Ordnungssinn liegen sie im Schuhkarton, im Fotoalbum oder gut sortiert im Leitzordner. Die Erinnerungen verblassen, die Farben ebenfalls, und im Rückblick muss man dann feststellen, dass all die persönlichen Aufnahmen trotz aller Mühe, die man sich gegeben hat, so unspezifisch sind, dass sie anderen Fotos aus derselben Zeit zum Verwechseln ähnlich sind, wie es das Buch „Porträt“ von Hans-Peter Feldmann für die 50er und 60er Jahre ebenso schlagend beweist wie die Ausstellung „Private Bilder“, die in Krems vor ein paar Jahren stattgefunden hat.
Die Erinnerungssysteme erfüllen ihren Zweck also nur halbherzig oder oberflächlich. Sie eignen sich gut für Erinnerungen, die den Vers von der Sonnenuhr beherzigen und mit Hilfe der Arznei „Vergessen“ bereits aussortiert haben. Das mag aufbauend sein, wehmütig, romantisch, macht Freude, aber ein intensives Erinnern in Form einer kritischen oder selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Beziehung zu dieser oder jener Person, diesem oder jenem Ereignis kann so nicht stattfinden, ist ja meist auch nicht beabsichtigt. Wer greift denn schon zur Kamera, wenn er sich mit seinem Partner streitet. Auch die Kunst hat sich längst der Erinnerungssysteme bemächtigt. Bei ihr allerdings gilt die Lebensarznei „Vergessen“ nur wenig. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, dass sie für die schönen Seiten des Lebens zuständig ist, gibt es in ihr ganze Bereiche, die das Leben eher verkomplizieren als vereinfachen. Eine mit abgelegten Kleidern vollgestopfte enge Kammer eines Christian Boltanski schafft keine fröhliche Atmosphäre, obwohl es wirklich nur Lumpen sind, die dort lagern.
Wie geht nun Jutta Nase mit der Erinnerung um? Ihre intensive Auseinandersetzung mit Fotografien von Personen, die ihr einmal nahestanden oder noch nahestehen, erinnert mich ein wenig an die in Romanen und Filmen häufig vorkommenden Dialoge, die ja eigentlich Monologe sind, mit Bildern oder Fotografien von verstorbenen Partnern. Das Bild wird zum Ersatz für die Person. Jutta Nase hängt sich ein einmal ausgewähltes Foto als Großkopie, die aus künstlerischen Gründen oft in Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt ist, ins Atelier. Diese erneute Zusammenfügen geschieht übrigens nicht immer mit derselben Sorgfalt, was vielleicht schon ein erstes Zeichen für das Verhältnis zu der Person ist, das aufzuarbeiten Sie sich vorgenommen hat. All diesen Bilder-Briefen hier liegen solche groß kopierten Fotos zugrunde. Manchmal dauert es Monate, bis sie sich an die eigentliche künstlerische Arbeit wagt. Ich glaube, in dieser Zeit klärt sie erst mal ihr Verhältnis zu der Person und versucht wohl auch, diese als eigenen, selbständigen Charakter, vielleicht auch jenseits der konfliktbeladenen Beziehung ernst zu nehmen.
Am Anfang der eigentlichen Arbeit steht dann immer eine Entscheidung für die Farbe: soll sie alles mit einem schwarzen oder dunklen Farbton abdecken, so dass das Porträt fast ganz verschwindet oder einen heilen Farbton wählen und diesen lasierend auftragen, um die Vorlage weitgehendst sichtbar zu erhalten? Manchmal leuchten Mund oder Augen aus dem Bildgrund heraus, ein Paar wirkt recht fröhlich, andere geradezu gespenstisch. Manchmal sind bis zu sechs Schichten über so ein Foto gelegt.
Der nächste Punkt der Auseinandersetzung ist dann verbaler Art. Jutta Nase beginnt zu schreiben. Sie schreibt effektiv Briefe, weil die Briefform die althergebrachte Form ist, mit der wir uns an weit entfernte Personen wenden. So ein Brief hat immer etwas Monologisches, und Jutta Nases Monologe sind sehr privat und verwandeln sich während ihrer Niederschrift in emotionale Gesten, Rhythmen und Strukturen. Manchmal sind Buchstaben, ja sogar Worte erkennbar, aber eigentlich spielt sich die Auseinandersetzung mit der Person auf dem Bild auf einer alogischen Ebene ab. Einmal hat man das Gefühl, sie wiederholt in einer Art Staccato immer dasselbe Wort, dann wiederum lesen sich andere mehr wie eine Litanei, ein anderer Text wiederum endet nur deshalb nicht im Chaos, weil er von einem darüber gelegten Bild aufgefangen wird. Manchmal schreibt sie kreuz und quer und dann löscht sie wieder aus, streicht durch, als wäre die Auseinandersetzung weit von einer Klärung entfernt.
So werden die Bild-Briefe zu Zeit verdichtenden Momentaufnahmen, die ganz unterschiedliche Phasen der Auseinandersetzung mit der betreffenden Person und ihrem einmal angefertigten Porträt in ein einziges Bild binden. Zeit, Raum und die Person in Vergangenheit und Gegenwart existieren nicht mehr getrennt voneinander. Das ist eigentlich nur in einem Bild oder Bildwerk möglich, das auf die lineare Erzählweise verzichtet und sich durch diesen Verzicht in seiner Ausdruckskraft steigert.
Jutta Nases Briefbilder stehen damit eigentlich in der klassischen Tradition der Porträtmalerei, gegen die sie gleichzeitig opponieren. Wie der klassische Porträtist Sitzung für Sitzung benötigt, um die Person, die ihm da gegenüber sitzt, in ihren wichtigsten Wesenszügen zu erkennen, so geht sie als Kind des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit mit dem kopierten Foto um, was allerdings auch schon die Porträtmaler des letzten Jahrhunderts wie Franz von Lenbach gemacht haben. Das erspart einerseits Auseinandersetzungen, ermöglicht diese andererseits wiederum, allerdings in der eher monologischen Form, weil der andere ja nicht antworten kann. So kann sie sich auch Personen nähern, vor denen sie im Leben vielleicht Angst oder zu großen Respekt gehabt hat. War aber der Porträtist früherer Jahrhunderte an die Vorgaben seines Auftraggebers gebunden, so ist sie in dieser Beziehung zumindest frei. Sie braucht weder auf Repräsentation noch Konvention Rücksicht zu nehmen. Sie muss ihr fotografisches Vorbild weder abmalen noch von einem Medium in das andere übertragen. Sie setzt vielmehr ein Medium über das andere. Durch das Aufeinandertreffen von Gegensätzen entsteht die notwendige Spannung.
Das Prinzip ist nicht neu. Auch in der jüngsten Kunstgeschichte gibt es Porträtübermalungen. Am bekanntesten sind wohl die von Arnulf Rainer, der seine Vorlage aber nie ganz zudeckt, sondern nur intuitiv bestimmte Züge betont oder auslöscht. Darum geht es Jutta Nase nicht, auch wenn einzelne Gesichtsteile wie Augen, Mund oder Nase sich wirkungsvoll bis in die letzte Schicht der Übermalung und Überschreibung erhalten. Es geht ihr vielmehr darum, einen Zeitraum einzufangen, oder noch besser um ein Nachdenken über Zeit, die sie konkret an dieser einen Person überprüft. Deshalb tragen die Briefbilder auch alle zwei Jahreszahlen, die der Entstehung des Fotos und die der Entstehung des Bildes.
Gottfried Benn fährt in dem anfangs zitierten Brief fort: „Von dem, der sie zu tief erfasst und auflöst, ziehen die Dinge sich zurück.“ Mit den Menschen ist das nicht viel anders. Wer ihnen zu nahe tritt, wird sie aus den Augen verlieren. Jutta Nase erlaubt den Porträtierten durch ihre Bearbeitungsart von vornherein den Rückzug. Der intensive Umgang mit ihnen, den sie in Malerei und Schrift öffentlich macht, wird gleichzeitig verschlüsselt, so dass er sich dem logischen Erfassen verweigert. Bilder sind keine Reportage und haben schon deshalb nie eine eindeutige Botschaft. Sie fordern uns auf, uns einzulassen, und je nach Person wird das Ergebnis anders aussehen. Auch insofern macht es uns die bildende Kunst nicht leicht, weil sie uns keine Rezepte liefert, sondern uns auf unsere Wahrnehmung, unser Gefühl und unseren Verstand zurückwirft.
Ein Brief hat immer etwas Monologisches, und Jutta Nases Monologe sind sehr privat und verwandeln sich während ihrer Niederschrift in emotionale Gesten, Rhythmen und Strukturen.